Meditatives Gehen

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Vom gedankenverlorenen Gehen zum bewussten betrachtenden Gehen. Schritt für Schritt runterschalten.

Über das Gehen

Gehen ist die dem Menschen ureigensten Art des Fortbewegens. Es gibt uns ein Gefühl von Freiheit und Autonomie, hilft uns Gleichgewicht zu halten und immer wieder die Balance zu finden. „Zu gehen handelt von einfachen Freuden schreibt Erling Kagge in seinem sehr inspirierenden Buch „Gehen. Weiter gehen“. Darin liest es sich weiter „Der Kopf braucht Bodenhaftung, die bekommt er durch die Füße.“. Das erklärt, warum uns das bewusste langsame Gehen ruhiger und konzentrierter werden lässt – das Gedankenwirrwarr kommt allmählich zur Ruhe.
Überaus interessant ist auch der Zusammenhang zwischen Gehen und Denken bzw. Lernen. So gibt es dank neurowissenschaftlicher Forschung den Hinweis, dass der Hippocampus, eine Hirnregion mit dem Namen „Tor zum Gedächtnis“, in der die Übernahme von Information ins Langzeitgedächtnis stattfinden, auf den Rhythmus des Gehens reagiert. Hilfreich dafür ist ein Tempo aus regelmäßiger und mittlerer Geschwindigkeit.

In der Natur zu gehen, die Sinne zu öffnen, schafft Räume für Reflexion, Ideen zu finden oder den gegenwärtigen Moment zu genießen. Es macht zufrieden und glücklich, lässt ein Gefühl von innerer Ausgeglichenheit und einer entspannten Lebendigkeit entstehen – so fühle ich es.
Schon Hippokrates schrieb Gehen ist des Menschen beste Medizin und rät deswegen bei schlechter Laune spazieren zu gehen.
Eine Art des Gehens, die wohltuend, erdend und beruhigend wirkt, möchte ich dir hier vorstellen.

Stille in Bewegung

Bei der Gehmeditation wird der Erfahrung und der Empfindung des Gehens volle Aufmerksamkeit geschenkt – der Geist ist in diesem Prozess ganz im Moment verankert. Es ist ein Gehen ohne ein Ziel, ohne die Absicht irgendwo anzukommen. Sondern „ein Präsent sein“ im gegenwärtigen Moment, in jedem einzelnen Schritt. Im Vordergrund steht die Wahrnehmung des Gehens selbst und nicht das Ziel, wohin gegangen wird.
So kann man sich auf die Empfindungen des Fußes konzentrieren, wie er sich hebt, bewegt und wieder aufsetzt oder auf den Körper als Ganzes in der Bewegung des Gehens. Eine weitere Möglichkeit ist die Verbindung der Atmung mit den Schritten. Es sollte jedoch bevor mit der Meditation begonnen wird, eine klare Ausrichtung getroffen werden, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird.

Jon Kabat-Zinn, Begründer des MBSR-Programms, spricht über das achtsame Gehen von Stille in Bewegung, fließender Achtsamkeit.

Das meditative Gehen entspringt der buddhistischen Tradition und ist neben der Meditation im Liegen, Sitzen oder im Stehen eine Möglichkeit der Achtsamkeitspraxis. Sie wird auch als eine formale Übung auch in einem MBSR-Kurs (mindfulness based stress reduction) praktiziert. In Klöstern oder in Retreats wird oft neben der Sitzmeditation die Gehmeditation geübt um die Meditationspraxis in Balance zu halten.

Morgendlicher Almosengang der Mönche in Luang Prapang, Laos

Achtsames Gehen erfolgt meist im langsamen Tempo, es gibt jedoch auch Arten des schnelleren Gehens – im Idealfall wird jenes Tempo gewählt, bei dem das Gewahrsein ganz im Gehprozess zentriert sein kann.
Die Gehmeditation kann entweder in einem Raum ausgeführt werden, in den man auf und ab oder im Kreis geht oder im Freien, in der Natur. Es ist hilfreich zu Beginn der Praxis in einer ungestörten Umgebung zu üben.

Positive Aspekte des achtsamen Gehens

  • Durch den Rhythmus des Gehens kann der Geist zur Ruhe kommen.
  • Hilft die Bodenhaftung zu intensivieren und Halt zu finden.
  • Wenn z.B. Emotionen recht stark vorherrschend oder Geistesaktivitäten sehr intensiv sind, kann das Gehen hilfreich sein, abzuschalten.
  • Es ist einfach zu üben, da keine Hilfsmittel benötigt werden.
  • Geeignet für jene, die im Sitzen nicht üben können bzw. sich schwertun.
  • Wenn du für die Sitzmeditation zu müde bist oder dich das Sitzen müde gemacht hat, kann das Gehen den Geist wacher machen bzw. halten.

Die Gehmeditation – meine Erfahrungen

Ich durfte die Gehmeditation in einem thailändischen Kloster unter Anleitung eines buddhistischen Mönchs kennenlernen. Ich habe jetzt noch den melodischen Klang seiner Worte in meinen Ohren – „standing, standing, standing, lifting, moving, dropping …“. Eine Mini-Gruppe aus 3 Teilnehmenden durfte damals in einem sehr niedrigen aber langen Raum auf diese Weise auf und ab gehen. Das „innere Benennen“ half die Konzentration zu halten und aufmerksam bei den Schritten zu sein. Diese Art der Gehmeditation habe ich in meine persönliche Achtsamkeitspraxis übernommen.

Ich schätze das achtsame Gehen ganz besonders während meiner Retreat-Besuche. Meist ist hier nach jeder Sitzmeditation eine längere Sequenz des Gehens vorgesehen. Ich gehe dabei, wenn es die Temperaturen zulassen, gerne barfuß und spüre das Gras unter den Füßen, kleine Kieselsteine oder den Boden des Meditationsraumes. Es tut mir gut langsam zu gehen, immer wieder die Balance zu finden und die Erde zu erfühlen. Ich baue das achtsame Gehen, auch wenn es dann ein etwas schnellere Gangart ist, gerne in meine täglichen Wegstrecken ein, z.B. zur U-Bahn oder zum Supermarkt. Es hilft mir Stabilität zu finden, die dadurch auch im Inneren erwächst und mir Kraft und ein Gefühl der Ausgeglichenheit gibt.

Schritt für Schritt runterschalten in Island. Foto von Victoria Steiof.

Achtsames Gehen im Alltag

Du kannst die Gehmeditation, nachdem du schon ein wenig Praxiserfahrung gesammelt hast, auch in deinen Alltag einbauen und jeden Weg, den du gehst zu einer „informellen“ Achtsamkeitsübung werden lassen, z.B. den Weg zur U-Bahn, die Schritte im Büro zur Kaffeemaschine, Spazierwege im Wald oder in einem Park, der Weg in das Badezimmer, der Spaziergang mit dem Hund. Jede Situation bietet sich an und lädt dich ein, die Aufmerksamkeit ganz dem Gehprozess zu widmen, z.B. allen Empfindungen die beim Gehen im Körper auftauchen. Der Geist ist dabei ganz im gegenwärtigen Moment verankert. Vielleicht hilft es auch, wenn du dich recht gehetzt und angetrieben fühlst, das Tempo zu reduzieren, einen Gang runterzuschalten und ein paar bewusste Schritte in einer verlangsamten Geschwindigkeit zu gehen. Probiere es aus – möglicherweise lässt es dich ruhiger und stabiler werden.

Anleitung für eine formale Gehmeditation

Hier kannst du dir eine angeleitete Gehmeditation anhören. Wähle dafür einen Ort, an dem du ungestört und unbeobachtet bist und ca. 8 – 10 Schritte auf und ab gehen kannst.

Quellen & Buchtipps zu den Themen Achtsamkeitspraxis / Geh-Meditation / Gehen

Jon Kabat-Zinn (2011): Gesund durch Meditation. Knaur Verlag
Erling Kagge (2018): Gehen. Weiter gehen. Insel Verlag
Norbert Parucha (2014): Meditatives Wandern. Allegria-Verlag
Thich Nhat Hanh/Nguyen Anh-Huong (2008): Geh-Meditation. Goldmann Verlag
Halko Weiss/Michael E. Harrer/Thomas Dietz (2010): Das Achtsamkeitsbuch. Klett-Cotta Verlag
Philosophie Magazin (2018): Sonderausgabe „Wandern. Die Wege der Gedanken“